Die Zeit danach
Auch wenn es für viele von uns gerade nur schwer vorstellbar scheint, wird es ganz sicher auch eine Zeit nach der Corona-Pandemie geben. Die jetzige Zeit wird sich einreihen in fundamentale Zeitenwenden, wie sie auch in den vergangenen Jahrhunderten regelmäßig vorgekommen sind. Selbst verhältnismäßig kleine Ausbrüche wie die SARS-Pandemie Anfang dieses Jahrtausends mit „nur“ 780 Toten und gut über 8000 Infizierten haben sich in das globale Kollektivgedächtnis gebrannt. Im Folgenden soll daher ein Blick auf verschiedene Bereiche gewagt werden, bei denen tiefgreifende Veränderungen erwartbar sind oder sich bereits heute abzeichnen.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt
In beinahe jeder Krise wird gesellschaftlicher Druck „nach unten“ weitergegeben. Was die jetzige Pandemie von vorangegangenen, meist originär wirtschaftlichen Krisen, unterscheidet, ist die Betroffenheit wenig resilienter Bevölkerungsschichten in doppeltem Maße. Zum einen durch das Virus selbst, da sie häufig in Berufen tätig sind, die durch den direkten Kontakt mit anderen Menschen geprägt sind und nicht so einfach im Homeoffice tätig sein können. Auch sind diese Bevölkerungsgruppen zumeist auf den öffentlichen Verkehr angewiesen und können sich nur bedingt in private Schutzräume mit kollektiver Abschirmung zurückziehen. Zum anderen ist es gerade dieser Teil der Bevölkerung, der durch den einhergehenden wirtschaftlichen Einbruch besonders getroffen wird. Gerade die Minijobber, Multijobber und Geringverdiener spüren wirtschaftliche Verwerfungen als erstes und am direktesten. Da ist es ein gutes Zeichen, dass die Bundesregierung das Kurzarbeitergeld auch auf diese Berufsgruppen erweitert hat. Auch haben diese Teile der Bevölkerung — zumindest statistisch gesehen — einen schlechteren Zugang zu unserem Gesundheitssystem und können sich auch den Luxus wie die tägliche corona-freie Essenslieferung bis vor die Haustüre nicht leisten. All diese Faktoren sind geeignet, in mittlerer und langer Sicht für eine gefährliche gesellschaftliche Disbalance zu sorgen, die akuter wird, je länger der jetzige Zustand anhält.
Natürlich gibt es auch — neben dem schon erwähnten Kurzarbeitergeld — viele Vorschläge, wie besonders diesen Menschen geholfen werden kann. Auch lange bekannte Ansätze wie das Bedingungslose Grundeinkommen werden hier wieder ins Feld geführt. Ob sie tatsächlich zu einer Lösung des Problems beitragen, oder nur der aktuelle Zeitpunkt genutzt wird, um eine lägst bekannte Idee neu zu platzieren, ist hierbei allerdings fraglich. Vielmehr wird es an der Politik liegen, die nun immer als „systemrelevant“ gepriesenen Berufen in der Pflege und im Bereich einfacher Dienstleistungen nachhaltig zu stärken. Werkzeuge und Mittel dafür hat die Politik. Von einer Erhöhung des Mindestlohns über die Setzung steuerlicher Anreize für diese Berufsgruppen ist der Instrumentenkasten vielfältig. Alleine an der politischen Konsequenz der Umsetzung ist es bisher gescheitert.
Auch müssen wir uns dem gesamtgesellschaftlichen Diskurs stellen, in welcher Balance das Individuum zum Kollektiv steht. Während oftmals angeführt wird, dass autokratische Staaten besser auf das Virus reagieren können, ist es eher so, dass Staaten, die kollektivistischer ausgerichtet sind, (scheinbar) bei der Bekämpfung des Virus größere Erfolge erzielen. Allen voran Taiwan und Südkorea sind hier zu nennen. Beide Staaten sind Demokratien, die wie auch das autokratische Singapur und natürlich China selbst, die Eindämmung verhältnismäßig gut in den Griff bekommen haben. Vor allem Singapur, Südkorea und Taiwan verfolgen dabei einen strikten test, trace und treat Ansatz. Dabei nutzen diese Staaten auch digitale Möglichkeiten der Überwachung und Nachverfolgung von Kontaktpersonen, die bei uns (noch) nicht eingesetzt werden. Die Bekämpfung des Virus, wie auch der Umgang mit den Konsequenzen der Epidemie spiegelt sich in einer ständigen Güterabwägung. Dabei gilt auch, dass der Zweck nicht alle Mittel heiligen kann und die Maßnahmen verhältnismäßig sein müssen. Die verordneten Maßnahmen führen zwangsläufig zu einer Machtkonzentration auf Seiten der Exekutive. Diese Disbalance unserer Gewaltenteilung gilt es schnellstmöglich zu revidieren, sie kann und darf kein Dauerzustand sein. Vor allem bei autoritären Regimen bleibt allerdings zu befürchten, dass heute verordnete Einschränkungen der Grundrechte auch nach der Pandemie unter anderem Vorwand bestehen bleiben.
Globalisierung & Internationale Beziehungen
Dass die Globalisierung in Wellen verläuft, sollte mittlerweile allgemein bekannt sein. Während wir uns in den letzten Jahren weltweit immer tiefer integriert haben, erleben wir nun einen radikalen und globalen Abschwung, der so wahrscheinlich nur mit dem ersten Weltkrieg vergleichbar ist. Auch damals war die Welt verhältnismäßig tief integriert, der systemische Schock hat sich aber natürlich über einen wesentlich größeren Zeitraum gestreckt. Nicht auszuschließen, dass wir in Zukunft wieder mehr local sourcing betreiben und die komplexen globalen Lieferketten entzerrt werden.
Die Corona-Pandemie wird eine andere Welt hinterlassen wie wir sie kennen. Die Beziehungen zwischen den USA und China sind durch immer neue Verwerfungen — von der Referenzierung auf das Corona Virus als chinesisches Virus durch Trump bis hin zur unmittelbaren Ausweisung amerikanischer Journalisten durch China — auf den tiefsten Stand seit der Kulturrevolution gerutscht. Auch im Verhältnis der Europäer zu den USA wird sich vieles ändern. Die Schnelligkeit der einseitigen Grenzschließung durch die USA hat die europäischen Partner überrascht und nachhaltig vor den Kopf gestoßen. Generell ist eine Rückbesinnung auf den eigenen, direkten Einflussbereich vieler Staaten zu befürchten. Diese Reaktion hat sich auch in vergangenen Krisen oftmals gezeigt.
Wie wichtig aber eine starke internationale Gemeinschaft und transnationaler Zusammenhalt sind, wird noch präsenter, wenn sich die Corona-Pandemie in Afrika weiter ausbreitet. Auch wenn in einigen Ländern Afrikas günstigere Rahmenbedingungen wie z.B. ein wärmeres Klima, die Durchsetzung vorbeugender Maßnahmen wie Grenzschließungen für ausländische Besucher und die Erfahrung mit lokalen Virusinfektionen vorherrschen, überwiegt doch die Befürchtung, dass die Pandemie dort weit verheerendere Auswirkungen haben wird als auf der Nordhalbkugel. Zu schlecht sind die lokalen Gesundheitssysteme ausgestattet, um mit einem vergleichbaren Ansturm an Patienten wie wir ihn nun in Spanien, Italien oder den USA sehen, umgehen zu können.
Politisches Klima
Man würde meinen, das Virus und die damit verbundenen Meinungen treffen alle Menschen gleichermaßen und sind auch einigermaßen gleich verteilt. Weit gefehlt. In den USA korreliert die Einschätzung der Gefährlichkeit der Corona-Pandemie mit der jeweiligen politischen Richtung der Befragten (siehe z.B. hier). Ein klares Indiz der Folgen verfehlter präsidialer Epidemie-Politik. Aber was ist auch von einem Commander in Chief zu erwarten, der als eine der ersten Amtshandlungen das eigene Beratergremium für Epidemien aufgelöst und noch fleißig mit Corona-Infizierten Hände schüttelt, als die Folgen des Virus schon längst absehbar waren (siehe hier). Fake News und die Verzerrung von Wahrheit mögen bei unkritischeren Themen bisweilen sogar erheiternd wirken. In Zeiten des Corona-Virus sind sie gefährlich. Der durchschnittliche FOX-Zuschauer ist 65 Jahre alt und somit mitten in der Risikogruppe. Aber gerade FOX News hat sich in den ersten Wochen der Pandemie durch eine Verharmlosung und Lobhudelei der Trumpschen Beschwichtigung hervorgetan. Wenn Trump von vollen Kirchen zu Ostern schwadroniert, fällt dem FOX-Reporter nicht mehr als eine kleine Nachfrage ein. Die Huldigung des Präsidenten und seiner Politik hatte bei FOX selbst dann noch Konjunktur, als der eigene Chef — Robert Murdoch — die Feier seines 89. Geburtstags aus Sorge vor dem Virus bereits absagen ließ (siehe hier).
Europäische Union
Gerade in Krisenzeiten zeigt sich die Fehlbarkeit der Europäischen Union. Vieles an ihr erinnert an eine schöne, spätsommerliche Landhausparty, auf der sich die Gäste prächtig amüsieren, bis der Regen kommt und es drinnen zu eng wird. Dann ist sich jeder selbst der Nächste und behauptet entweder den Platz im Trockenen oder flieht ohne Rücksicht auf Verluste nach Hause. Bereits 2015 während des Höhepunkts der Flüchtlingskrise gab die Europäische Union ein ähnlich erschreckendes Bild ab. Solidarität und Zusammenhalt scheinen wie längst vergessene Ideale einer anderen Zeit. Erschreckendes Beispiel gefällig: Bereits am 10. März hat der italienische Botschafter bei der EU andere Mitgliedsländer um Hilfe und Unterstützung bei der Bekämpfung des Virus gebeten (siehe hier). Hilfe kam dann auch — allerdings von eher unerwarteter Seite aus Russland, China und Kuba (siehe hier). Erst spät ist die europäische Solidarität angelaufen (siehe hier).
Auch an den innereuropäischen Grenzen spiegelt sich derzeit die dramatische Lage der EU als Ganzes. Viele, vor allem östliche Mitgliedsländer, nehmen die Pandemie zum Anlass, die Schlagbäume herunterzulassen. Ob hierbei immer nur der Virenschutz oder doch die eigene politische Auffassung im Vordergrund steht, sei einmal dahingestellt. Natürlich können auch Grenzschließungen zu einer langsameren Verbreitung des Virus beitragen. Dennoch müssen gerade diese Maßnahmen in einem vereinten Europa umfassend abgewogen werden. Wenn man dabei sogar Pendlern den Arbeitsweg versperrt, ist dies sicherlich nicht der Fall. Ob sich in Europa nach der Pandemie eine Art Systemfrage stellen wird, steht noch in den Sternen (siehe dazu hier). Zu einer tieferen Integration und engeren Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten hat die Krise allerdings nicht geführt. Europa mangelt es dabei nicht nur an unmittelbaren praktischen Maßnahmen, auch ein gemeinsames Zielbild und eine gemeinsame Vision sind nicht erkennbar. Was wir auch bereits jetzt schon absehen können: Die Eurokrise kommt zurück. Gerade Staaten, die bereits vor der Corona-Pandemie am wirtschaftlich fragilsten waren, haben am meisten mit dem Virus zu kämpfen — allen voran Spanien und Italien. Dies war bereits in den vergangenen Wochen durch die gestiegenen Zinsen auf spanische und italienische Staatsanleihen absehbar. Ob die Notmaßnahmen der EZB abermals ausreichen, um die Märkte zu beruhigen, wird sich zeigen. Und auch ob ein neuerliches Whatever it takes von Draghis Nachfolgerin Lagarde dieselbe Wirkung haben wird wie 2012, ist keineswegs gewiss. Noch immer gibt es auf EU-Ebene keine konsolidierte Fiskalpolitik. Jeder Staat versucht mit einem eigenen Instrumentenkasten auf die Krise zu reagieren. Länder wie Deutschland, die in den letzten Jahren ihre relative Verschuldung im Vergleich zum BIP gesenkt haben, können nun aus dem Vollen schöpfen. Gerade die am stärksten von der Krise betroffenen Staaten wie Spanien und Italien sind bereits jenseits des ökonomisch gesunden Limits und haben daher weit weniger Spielraum.
Wirtschaft
Was sicherlich keine Überraschung ist: Der E-Commerce-Siegeszug hält an und wird durch eine kollektive Quarantäne natürlich intensiviert. Interessant ist hierbei vor allem, dass mittlerweile auch Bereiche wie die Lebensmittelversorgung von einem regelrechten
E-Commerce-Boom heimgesucht werden. Dieser Bereich war — vor allem in Deutschland — noch stark durch den klassischen Detailhandel geprägt. Andere Länder — allen voran Großbritannien und auch die USA — sind da bereits weiter.
Ein weiterer Wirtschaftsbereich, der in der Vergangenheit immer stark von Krisen geprägt war, ist die Immobilien- und Bauwirtschaft. In der letzten globalen Krise 2008/2009 stand die Immobilienwirtschaft sogar im Auge des Sturms und war Auslöser des Dominoeffekts. In der jetzigen Situation ist der Effekt noch nicht vollends absehbar, vor allem nicht global. Wiederum wird der Effekt von der Dauer der Krise abhängen. Wenn der Markt unter Druck gerät und viele Teilnehmer kurzfristig liquide Mittel beschaffen müssen, kann es durchaus zu einem Rückgang der Preise — vor allem in urbanen Gebieten — kommen. Im gegenläufigen Effekt „fliehen“ natürlich gerade in Krisenzeiten viele Anleger in das berühmte „Betongold“.
Während es bei vergangenen Krisen eine sequenzielle Wahrnehmung der Effekte in den verschiedenen Wirtschaftsbereichen gab, trifft sie dieses Mal direkt viele Bereiche gleichermaßen. Vor allem traditionell nachgelagerte Bereiche wie die Tourismusbranche werden in dieser Krise als erstes und mit am heftigsten getroffen. Das verstärkt die globale Dimension der Krise zusätzlich. Wie wichtig aber die geltenden Reisebeschränkungen und Einschränkungen im Tourismus sind, zeigt das Beispiel des Skiortes Ischgl im Tiroler Paznauntal. Bereits am 5. März durch isländische Behörden als Risikogebiet eingestuft — auf einer Stufe mit dem Iran und der chinesischen Provinz Wuhan — ging dort die Party noch über eine Woche weiter (siehe hier). Vieles deutet darauf hin, dass dies mit zur enormen Ausbreitung des Virus, vor allem in Nordeuropa, beigetragen hat (siehe hier). Ob in Ischgl der Schutz des menschlichen Lebens unter die Profitinteressen der Hotels und Bergbahnbetreiber gestellt wurde, werden Gerichte klären müssen. Die ersten Sammelklagen dazu sind bereits angelaufen (siehe hier).
Die Krise fördert auch wieder traditionelle, kapitalistische Mechanismen zu Tage: Wenn globale Konzerne wie Adidas und Co. auf Basis eines Gesetzes, das für den individuellen Mietschutz gedacht war, ihren wirtschaftlichen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen wollen, zeigt das, wie die Regeln des Kapitalismus noch immer greifen und wie wichtig daher ein umsichtiges staatliches Eingreifen ist. Neben vielen — profitorientierten — Unternehmen, die sich in den vergangenen Wochen solidarisch gezeigt haben, wirkt diese Ankündigung wie aus der Zeit gefallen. Mittlerweile scheint Adidas die ursprüngliche Haltung überdacht zu haben und möchte zumindest gegenüber privaten Vermietern die Aprilmiete begleichen. Mehr als ein Nachgeschmack bleibt an diesem Vorgehen aber dennoch haften.
Arbeitswelt & Bildung
Für die Arbeitswelt gilt wohl wie für kaum einen anderen Bereich „was gestern noch unmöglich schien, ist heute schon normal“. Chefinnen und Chefs — vor allem alter Façon — durften lernen, dass man auch im Homeoffice produktiv arbeiten kann. Natürlich kann die Zoom-Konferenz nicht den persönlichen Kontakt ersetzen, dass die Arbeit in sehr vielen indirekten Bereichen aber zu einem guten Teil auch ortsunabhängig erledigt werden kann, sollte nun allgemein bekannt sein. Diese Erkenntnis muss sich auch nach der Krise in flexibleren Arbeitsformen niederschlagen. Ortsunabhängiges Arbeiten — wo möglich — muss die Normalität und nicht die Ausnahme werden. Hier können wir diese Krise als Chance nutzen.
Aber natürlich zeigt diese Zeit auch, dass digitales Arbeiten und Lernen noch längst keine Selbstverständlichkeit sind. Während in erster Linie globale Konzerne und hippe Startups gut in der digitalen Arbeitswelt zurechtkommen, sieht man vor allem im Bildungsbereich erschreckende Lücken. Ob in der Schule oder der Uni: Digitale Wissensvermittlung klappt nicht wirklich.
Die Pandemie wird einen Einfluss auf jeden unserer Lebensbereiche haben. Wie genau sich die einzelnen Effekte entwickeln und welche am Ende überwiegen, ist heute noch schwer abschätzbar. Dieser Überblick versucht, eine erste Einordnung der unmittelbarsten Effekte zu geben. Eine abschließende Analyse ist er sicherlich nicht.